Gerüchte am Gericht

Von der hysterischen Frau zur bindungsintoleranten Mutter

Mutterschaft ist nur teilweise selbstbestimmt. Meist unterliegt sie den Definitionen anderer - von der Raben- bis zur Gluckenmutter. Besonders dann, wenn Mütter sich trennen, brauen sich Erzählungen über ihnen zusammen. Mit Zuschreibungen an Mutterschaft wird Autorität über die Mutter ausgeübt, die sich getrennt hat. Zur Wiederherstellung der patriarchalen Ordnung sind dann viele Mittel und Geschichten Recht.

Die Psychatrisierung von Frauen ist immer noch allgegenwärtig: Frauen gelten bis heute als emotional statt rational, als rachsüchtig und labil. Der Backlash alter Rollenbilder ist enorm. Da wundert es nicht, dass frauenfeindliche Erzählungen gerade in familienrechtlichen Verfahren besonders häufig reproduziert werden. Allerdings tarnen sich die Erzählungen hinter neuen Begriffen wie zum Beispiel dem der "Bindungsintoleranz". AnwältInnen raten ihren Klientinnen mittlerweile dazu in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren eine Gewalttätigkeit des Vaters nicht anzuführen, um nicht als "Lügnerin" einen noch schlechteren Stand vor dem Gericht zu haben.

Müttern die Gewalt vortragen, wird nicht geglaubt. Wie so oft, wenn Frauen ihre Gewalterfahrungen berichten. Im Familiengericht wird dann schnell geurteit, dass die Mutter Unwahrheiten erzählt, um dem Vater das Sorgerecht streitig zu machen oder ihm das Kind zu entfremden. Andersherum stellt der Vater NACH der Trennung oft Defizite der Mutter fest, die von den Institutionen unhinterfragt übernommen werden und zum Sorgerechtsverlust der Mutter führen können.

Hier zeigt sich der Einfluss patriarchaler Strukturen und Genderstereotype auf unser Rechtssystem. Dabei deutet eine kanadische Studie darauf hin, dass nur 1,3 Prozent der Frauen in Sorgerechtsverfahren vor Gericht lügen. Bei Männern seien es hingegen 21 Prozent.[i]

Die Erfindung der Bindungsintoleranz

Es klingt wie ein schlechtes Märchen: Familiengerichte stützen sich auf nicht-wissenschaftliche Annahmen und genderstereotype Narrative. Es wird beispielsweise unterstellt, dass Kinder, die keinen Umgang mit einem Elternteil haben, schwer gefährdet seien, obwohl es dafür keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Im Sinne des „Kindeswohls“ werden Kinder sogar teilweise gewaltsam zum anderen Elternteil gebracht (Ludwig Salgo 2021). Ermöglichen gewaltbetroffene Mütter nicht den Umgang des gewalttätigen Vaters mit dem Kind, werden sie als „bindungsintolerant“ eingestuft. Die Folgen reichen bis hin zum Verlust des Sorgerechts.

"Bindungsintoleranz" ist der Vorwurf, dass die Mutter die Bindung zwischen Vater und Kind nicht zulassen kann. Es ist das am weitesten verbreitete, antifeministische Narrativ seitens der Institutionen und geht zurück auf die Entfremdungstheorie (Parental Alienation Syndrome) von Richard Gardner, die als unwissenschaftlich und fachlich nicht haltbar widerlegt ist. Wenn gewaltbetroffene Mütter den Kontakt zu Vater und Kind aus Sorge um die eigene und/oder die Sicherheit des Kindes nicht zulassen möchten, wird dies als Versuch interpretiert, den Kindsvater und Ex-Partner zu schädigen, indem ihm das Kind bewusst entfremdet wird. In der Realität ist es selten, dass Mütter gezielt lügen oder manipulieren, um die Beziehung des Kindes mit dem Vater zu schädigen. Die meisten Mütter wünschen sich eine gute Beziehung zwischen Vater und Kind und sind auch auf die Unterstützung des Kindsvaters angewiesen. Wenn Mütter also den Kontakt nicht zulassen oder einschränken wollen, sollte dies von Gerichten und Behörden unbedingt untersucht und ernstgenommen werden (Barnett 2022).

Die Bedenken von gewaltbetroffenen Müttern bezüglich des Umgangs des gewalttätigen Vaters mit dem Kind sind durchaus berechtigt: in 63 Prozent aller Fälle, in denen der Vater gegen die Mutter gewalttätig ist/war, richtet sich die Gewalt auch gegen das Kind.[ii] Die Ergebnisse einer repräsentativen Studie belegen außerdem, dass das Risiko emotionaler und körperlicher Misshandlung der Kinder um bis zu 40,5 Prozent ansteigt, wenn die Kinder häusliche Gewalt gegen die Mutter erleben.[iii]

Gelobt sei der Vater, geprüft die Mutter

Während das Umgangsrecht von Vätern als Instrument gegen ihre Ex-Partnerinnen benutzt wird, dringen Mütter mit ihren Sorgen nicht durch. Im Gegenteil: Sie werden von Jugendämtern, Beratungseinrichtungen und Gerichten mit unzutreffenden Zuschreibungen konfrontiert, die im Verfahren gegen sie verwendet werden. Plötzlich werden sie als Täterinnen dargestellt, denen vorgeworfen wird, ihr/e Kind/er zu gefährden, weil sie dem Vater Umgänge nicht im gewünschten Umfang gewähren oder den Umgang aussetzen wollen. Wenn gewaltbetroffene Mütter auf diese Weise versuchen sich und ihre Kinder zu schützen, werden sie häufig von institutioneller Seite diffamiert. Auch der Vorwurf der Kindeswohlgefährdung wird in diesen Fällen gegen Mütter ausgesprochen. Im schlimmsten Fall kommt es zur Inobhutnahme und Umplatzierung des/r Kindes/r. Diese Täter-Opfer-Umkehr erfolgt über antifeministische, ideologische Narrative, mit denen die psychologische Verfassung oder Erziehungsfähigkeit der Mutter in Frage gestellt wird - vor allem dann, wenn die Mutter Gewaltvorwürfe gegen ihren Ex-Partner und Vater ihrer Kinder ausspricht.

Es handelt sich dabei um eine besonders perfide Form institutioneller Gewalt, die bei den betroffenen Frauen zu einer enormen psychischen Belastung und zum Verlust des Glaubens an den Rechtsstaat führt. Der Geschlechterbias zeigt sich auch in der sehr unterschiedlichen Sicht auf die Verantwortlichkeiten eines Vaters und einer Mutter und führt mit dazu, dass Vätern meist allein der Wille zum Umgang mit seinem Kind hoch angerechnet wird. Gewaltbetroffene Mütter stehen dagegen auf dem Prüfstand - sie müssen ihre Erziehungsfähigkeit unter Beweis stellen und per gerichtlicher Anordnung im Kontext von Gerichtsverfahren oder Umgängen dem Gewalttäter immer wieder gegenübertreten. Dabei werden sie nicht geschützt.

Um nicht dem Vorwurf der Kindesentfremdung und/oder Manipulation des Kindes ausgesetzt zu werden, müssen sie möglicherweise gefährliche Umgänge bzw. Umgangsmodelle ermöglichen und dürfen schwierige und/oder schädigende Erlebnisse des Kindes nicht mit diesem besprechen und kontextualisieren. Damit werden Machtverhältnisse weiter tabusiert und Realitäten geleugnet.

Zuviel Mutter?

Ist das Kind der Mutter gegenüber sehr anhänglich und/oder möchte nicht zum Vater, kommt immer öfter der Vorwurf der symbiotischen Mutter-Kind-Bindung zur Anwendung. Gemeint ist damit, dass die Bindung von Mutter und Kind "zu eng" ist, was wiederum dem Kindeswohl schade. Besonders bedenklich ist die Anwendung dieses Narrativs dann, wenn das Kind begründete Angst vor dem Vater hat. Da der gesetzliche Rahmen das Kindeswohl über die Umgänge mit beiden Elternteilen definiert, besteht hier die große Gefahr, dass das Kindeswohl den Rechten des Vaters untergeordnet wird und Kinder gefährdet werden. Die Folge sind nicht sichere Umgänge und im schlimmsten Fall sogar die Umplatzierung des Kindes zum Vater.

Neben dem Einsatz antifeministischer Narrative wird Gewalt durch Institutionen auch ausgeübt, indem den Aussagen von Vätern meist (fast) ungeprüft Glauben geschenkt wird. Stattdessen vergeben Behörden und Institutionen „Diagnosen“, die das Verhalten der gewaltbetroffenen Mutter fehlinterpretieren - mit möglicherweise fatalen Folgen für Mutter und Kind.

Zuviel Sorge?

Um Mütter zu diskreditieren, wird außerdem Belastungseifer unterstellt. Als Belastungseifer bezeichnet man das Vortragen verleumderischer Sachverhalte, gekennzeichnet vom starken emotionalen Agieren während der Aussage. So wird Müttern unterstellt, dass von ihnen vorgebrachte Gewaltvorwürfe oder Bedenken bzgl. der Sicherheit des Kindes, nur das Ziel haben, den Vater in ein schlechtes Licht zu rücken. Im Kontext einer tatsächlichen Gewaltbetroffenheit ist diese Unterstellung unverantwortlich und zynisch, da sie die Gefährdung für Mutter und Kind ausblendet und retraumatisierend wirkt. Zumal in Fällen der Gewaltbetroffenheit das „starke emotionale Agieren“ der betroffenen Mütter auf tatsächliche Gewalterfahrungen zurückzuführen ist.

Müttern, die sich sorgen, kann es auch passieren, dass Ihnen unterstellt wird, am Münchhausen-Stellvertreter-(by-proxy-)Syndrom zu leiden. Dieses ist klinisch dadurch gekennzeichnet, dass die betreuende Person Krankheitssymptome bei einem Kind provoziert, die einen Kontakt zum Arzt rechtfertigen. Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom ist eine Form der Kindesmisshandlung. In Umgangs- und Sorgerechtsverfahren wird diese sehr ernstzunehmende Erkrankung zur Diffamierung der Mutter eingesetzt. Der Mutter wird dann eine Kindeswohlgefährdung attestiert, auch wenn eigentlich berechtigte Bedenken bzgl. einer Krankheit des Kindes und/oder des Verhaltens des Vaters bestehen.

Zu wenig Gewaltschutz:

Mütter, die sich trennen, stehen plötzlich auf dem Prüfstand, werden in ihrer Erziehungsfähigkeit in Frage gestellt oder einfach für "bindungsintolerant" erklärt. Aber vor Gewalt geschützt werden Mütter und Kinder nicht. Oder nur sehr unzureichend.

 

Quellen

[i] Bala, Nicholas und John Schumann (2000), “Allegations of Sexual Abuse When Parents Have Separated”; Canadian Family Law Quarterly 17, S. 191-241.[1]

[ii] Aris, R. und Harrison, C. (2007), “Domestic Violence and the Supplemental Information Form C1A”, London: Ministry of Justice.

[iii] Clemens, V. et. Al. (2019), “Häusliche Gewalt: Ein wichtiger Risikofaktor für Kindesmisshandlung“, S.96.

 

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